“Diplomatisch zurückhaltend und königsfromm” – oder nicht?


Vom Schinkel-Bild des DDR-Stararchitekten Hermann Henselmann


Von Volkmar Heuer-Strathmann

“Städtebau setzt Gesellschaftsplanung voraus, die in einer antagonistischen Klassengesellschaft nicht möglich ist”, schreibt Günter Meier im Vorwort zu einem Sammelband mit Briefen und Tagebuchnotizen von Karl Friedrich Schinkel, der 1969 in der DDR erschienen ist. Stararchitekt Hermann Henselmann erwähnt 1981 in “Drei Reisen nach Berlin” immerhin die Reise Schinkels nach England im Jahre 1826, geht aber nicht näher auf dessen überaus kritische Bemerkungen zur Stadtenwicklung in der Region Birmingham angesichts der beginnenden Industrialisierung ein. Selbst ein Skandal wie die knallhart durchgesetzte Remigration von unzähligen ungelernten irischen Arbeitern findet die Aufmerksamkeit des sensiblen Mannes. Henselmann aber nennt ihn nur “diplomatisch zurückhaltend und königsfromm”. Womöglich hat er sich neben den unübersehbaren Werken in Berlin primär mit Schinkels Post an die Mächtigen seiner Zeit befasst und daraus sein Bild geformt.

Auch in dem 2025 erschienenen Roman “Die Allee” von Florentine Anders ist von Schinkel die Rede. Auf Einladung der Schinkel-Gesellschaft und der Fontane-Buchhandlung las Henselmanns Enkelin in Neuruppin. Gemeinsam mit Moderator Otto Wynen und Gastgeberin Jana Kolar-Voigt konnte sie sich über einen vollen Laden freuen. Und an Fragen war auch kein Mangel.

Anders geht es nicht um eine Abrechnung, noch weniger aber um ein Heldenstück. Die 1968 in Ost-Berlin geborene Nachfahrin will eigentlich “nur” ihre Angehörigen besser verstehen und dabei unterschiedliche Stimmen und Perspektiven berücksichtigen. Dass ihr dabei Mutter und Großmutter näherstehen, bleibt auch bei der Lesung kein Geheimnis. Der Zeitabschnitt von 1905 bis 1995, das ist keine Kleinigkeit: Mehr politische Veränderungen sind in neunzig Jahren sicher kaum möglich, vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, den NS-Staat, die SBZ und die DDR bis zum wiedervereinigten Deutschland.

Bild von Henselmann
Henselmann

Vorgelesen wurde in Neuruppin natürlich die Passage, in der es um einen Besuch Henselmanns bei Bertolt Brecht geht – und um Schinkel. Man hatte sich angefreundet. Beide Künstler sahen sich mit Kritik aus der SED konfrontiert. “Moskau” hatte auch die Hände im Spiel. “Brecht hört zu und reagiert dann ruhig und besänftigend. Die Arbeiterklasse sei eben noch nicht reif für die Moderne. Der Künstler dürfe sich nicht über das Volk erheben.” Hier kommt Schinkel ins Spiel. Das Konzept für das Hochhaus an der Weberwiese wird zum Kompromiss: “Hermann geht gedanklich einen Schritt zurück, orientiert sich an dem expressiven Stil, den er in den Zwanzigerjahren gelernt hatte. Hinzu kommen Schinkel’sche Fenster und Säulen. Schinkel ist vertretbar. In dieser nationalen Tradition kann er sich selbst sehen…” Mit den Herrschenden hatten halt beide Architekten kein einfaches Auskommen. Königsfromm der eine, funktionärsergeben der andere? Erfolgsselig beide? In Wirklichkeit dürfte es wesentlich komplizierter sein.

Bei “Fontane” hat man in Sachen Henselmann und Schinkel noch mehr zu bieten. Florian Havemann, auch er ein Verwandter, ist mit einem Essay beteiligt an dem Fotoband “Hermann Henselmann, Architekt, Ost-Berlin” (2024). Zuerst könnte man leicht stolpern: “Henselmann verdankt es Adolf Hitler, dass er so große, das Bild der Stadt Berlin prägende Bauten errichten konnte.” Wenig später wird klar, dass damit “nur” auf den Tatbestand der grundständigen Zerstörung der Hauptstadt im Verlauf des “totalen Krieges” angespielt werden soll. Was Schinkel anbelangt, ist auch hier vom Kompromiss die Rede, insbesondere beim Blick auf die Säulen, die den Eingang zu besagtem Hochhaus prägen: “Unter seinen Kollegen im Westen gilt Henselmann daraufhin als Verräter an der Moderne.” Klar, wenn einer sich “in einem klassizistischen Stil an Schinkel anlehnt”. Ganz anders fällt die Beurteilung Jahrzehnte später aus, so Havemann, als das Wort von der Postmoderne die Runde macht. “Henselmann gilt nun als Vorläufer…” Na bitte! Stilelemente der Vergangenheit würden zitiert, ohne dass sie einen funktionalen Zweck erfüllen müssen. “Die Stile kehren zurück. Als Zitate.” Und der Opportunismusverdacht? Verblasst. Ein Spiel mit den Mächtigen scheint gespielt worden zu sein. Ob das auch für Schinkel in Anspruch genommen werden könnte?

Schinkel Entwurf für ein Museum

“Überall ist man nur da wahrhaft lebendig, wo man Neues schafft”, hatte der vielfältig begabte Sohn Neuruppins einst notiert. “Das Gotische in der Architektur ist unbestimmt anregend, daher weiblich, das Griechische männlich”, liest man in jenem Sammelband und schmunzelt mannhaft. Für die SED-Debatte um das Primat der Funktionalität schreibt Schinkel schon mal vorauseilend: “Die für jedermann passende Nützlichkeit, zum Prinzip erhoben und zu allgemeiner Anwendbarkeit befördert, ist der wesentliche Grund und Boden der Philisterei.” Schinkels Wort von der “Unendlichkeit der Individualitäten” ist in der DDR-Ausgabe aus dem Jahr 1969 nicht gestrichen worden.

In England sah Schinkel 1826 serielle Bauten. Sie machen ihn melancholisch. In der DDR ist “Einholen und Überholen” der BRD zur Parole geworden. Schon ist man beim “Plattenbau” und einem weiteren Dilemma – nicht nur Henselmanns. “Mietskasernen” sind in der BRD in der Unterschicht angesiedelt. Schöner wohnen, besser leben hängt sich an Bungalows – auch im Kanzler-Bungalow in Bonn.

“Ein Architekt muss die Menschen lieben, um sich vorstellen zu können, wie sie in den Häusern leben”, wird Henselmann am Ende des Romans von Florentine Anders zitiert. Die Menschen? Die Menschheit? Okay. Aber den Einzelnen? Den Andersartigen? Den Fremden? Oder gar den Nachbarn? Ob Henselmann selbst schon so reif war? Der Selbstverliebte? Der Heißblütige? Die Enkelin weiß, wie schwierig es mit diesem umtriebigen begabten Mann angesichts seiner “Ambivalenzen” gewesen sein muss. Aber ihre Mutter Isi geht ihren Weg – auch beruflich. Das war zur Zeit Schinkels noch anders. Dabei hat die kluge Susanne “nur” vier Kinder unter ihrer Obhut, Isi aber acht. Anders lacht, als sie vorliest: “Während die funktionale Moderne an der Fassade politisch tabu ist, geht die Einbauküche von Isi, die sich genau an diesem funktionalen Stil orintiert, anstandslos durch.”

“Flori”, wie wir ihn von Wolf Biermann kennen, hat übrigens noch mehr “Schinkelmann” zu bieten, ohne es so zu sagen. Ein Bauobjekt in eine Landschaft zu versetzen, gegebenenfalls sogar malerisch zu zaubern wie die Freigeister unter den Romantikern, das ist auch Schinkel. Bis zur Akropolis wagt er sich und spielt so womöglich auch mit demokratischen Konnotationen, Stichwort Polis. Henselmann greift zur Schere. Er will das Politbüro der SED von seinem Entwurf des Fernsehturms überzeugen. Das gelingt am 14. Juli 1964, trotz der Schwachstellen dieser Fotomontage. Oder wegen? Stichwort SUV östlicher Machart? Und die moderne Frau im Vordergrund, ist sie etwa die Fahrerin? Das weiß der Himmel. Die Phantasie an die Macht! Ach nein, das war im Westen.

Montage


Nochmal Havemann, der vielleicht auch gerne mal nach Neuruppin kommen würde, um über sein Schinkel-Bild zu sprechen: “Es geht Henselmann darum, diesen Genossen im Politbüro, deren Vorstellungskraft so groß nicht sein wird, eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie’s einmal aussehen könnte, der Fernsehturm in Zentrum von Berlin.” Nochmal Schinkel, wie zitiert in jenem Band, der hoffentlich seinerzeit zu kaufen war in der Karl-Marx-Buchhandlung am Prachtboulevard von Ost-Berlin: “Das Werk der Baukunst muss nicht dastehen als ein abgeschlossener Gegenstand, die echte, wahre Imagination, die einmal in den Strom der in ihm ausgesprochenen Idee hineingeraten ist, muss ewig von diesem Werk aus weit fortgestalten und ins Unendliche hinausführen.”

Berlin Hochhaus an der Weberwiese, Portal aus Granit (Carinhall)