Von Volkmar Heuer-Strathmann
Ein Staatstheater stellte sich Jakob Michael Reinhold Lenz nicht vor, als er 1774 programmatische Überlegungen verfasste. Unter freiem Himmel sollte gespielt werden, man sollte von Ort zu Ort ziehen und den Versuch wagen, möglichst viele Menschen zu erreichen. Sein wagemutiges Stück “Der neue Menoza” hatte er eben erst anonym veröffentlicht. Zu sehr könnte dem Autor übel genommen werden, was da durch “Die Geschichte des cumbischen Prinzen Tandi” ans Dämmerlicht kommt. Das Ensemble “Theater 89” darf sich in der Tradition solcher Autoren wie Lenz, Kleist oder Büchner sehen, das zeigte diese Premiere auf besondere Weise.
Christian Schaefer macht es in der Hauptrolle des Fremdlings sichtlich Freude, in die feine Gesellschaft von Naumburg hineinzufahren wie der lachende Blitz. Dass er an Wilhelmine von Biederling, der Tochter seiner Gastgeber, Gefallen findet, könnte an ein Liebesstück denken lassen und Paaresglück. Ella Zoe Arnsburg aber darf eine Wilhelmine geben, die auch den Grafen Camäleon aus der Fassung bringt. Moritz Meyer kommt an diesem Abend keine Sekunde zur Ruhe. Zu viel ist zu erleben, zu viel ist zu verbergen, alles reizt ihn. Das Erregungsniveau aller Gestalten steigt. Verdrängung hilft auch nicht (mehr). Deshalb der Dolch, deshalb die Messer, deshalb die Pistolen. Gift könnte auch gegeben werden, wenn die Wahrheit nicht an den Tag kommen soll. Tandi wollte ja wissen, wie die Menschen so leben in diesem Europa, das unter dem Leitwort der Aufklärung endlich in gute, ja in bessere Zeiten geführt werden soll. Geführt? Wir befinden uns in der Phase des “aufgeklärten Absolutismus”. Und der deutschen Kleinstaaterei. Da gespielt, wo Friedrich der Große ziemlich klein anfing. Aber in Sachsen angesiedelt, nur ohne das Wunder der Mundart. Man will verstanden werden. Klare Artikulation, zumindest auf Deutsch.

Beziehungchaos in feinster Gesellschaft. Foto: VHS
Auch von Uta Wilde, die die Frau von Biederling geben darf, wird kein Mutterglück, kein Treuestück geboten. Und mit der polnischen Gräfin, ihrer Amme Babet, jenem Herrn von Zopf und einem gewissen Gustav (Jakob Frank/Elia Klag) wird das Spiel von Lüge und Intrige, von Leidenschaft und Machenschaft und die trügerische Hoffnung auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit nur noch intensiver. Und witziger. Dafür sorgt nicht nur Martin Schneider in der Rolle des umtriebigen Herrn von Biederling. Dass Schneider Gitarre zu spielen weiß, nutzt Regisseur Hans-Joachim Frank zur Modernisierung des Stoffs. Volkslied, Kinderlied und Popsong entschädigen das große Publikum für viel gedankliche Arbeit. Es gibt dankbaren Sonderapplaus, immer wieder.
Dass die Premiere in Neuruppin als Erfolg bezeichnet werden kann, ist sicherlich auch auf einen weiteren Kunstgriff dieses Ensembles mit Jörg Mihan als Dramaturg zurückzuführen. Man spricht immer mal wieder Polnisch, man singt Polnisch, man lügt Polnisch und klärt auf Polnisch auf. Karolina Andrejczuk, Katarzyna Penkala und Hubert Kossinski bieten ein bilunguales Spiel, wo Lenz seine spanische Gräfin auf Gutdeutsch zu Babet bloß sagen lässt: “Närrin! Verdammte Hexe!” Einlagen wie “Hänschen klein” und vorwitzig dargebotene Schulpoesie wie “Sah ein Knab’…” wurden besonders laut beklatscht. Wieder was verstanden!

Singen hält Herz und Verstand zusammen. Foto: VHS
Offen lassen wir hier, wie es ausgeht. Sonst lesen die wirklich Interessierten aus Potsdam, Jüterbog und Treuenbrietzen, um nur drei von zwanzig weiteren Spielorten zu nennen, schon im Netz, wie’s zuging in Naumburg. Alle Menschen sind Geschwister? Bloß nicht! Wer wegen des Turbans und der Beinkleider Tandis dachte, das Thema Fremdenfeindlichkeit oder Religionshoheit würde hier mal so richtig Raum gewinnen unter Christen dieses Typs, sah sich – ganz Lenz – mit der Tatsache konfrontiert, dass nur gespielt wird im Spiel. Tandi ist gar kein “Mameluke”. Bald mehr davon – auch in Kremmen, in Rheinsberg, eben in historischen Stadtkernen im Lande Brandenburg.
Wunderbare Nonsensepoesie, wie sie der in Neuruppin geborene Psychologe Walter Blumenfeld 1933 in “Sinn und Unsinn” empfiehlt, um Geistesschwere zu überwinden, krönte die Zugabe. Und das in der Fontanestadt mit einem köstlichen Birnenstück aus Schaefer-Mund, mit Stengel, Blatt und Bett und furiosem Bühnentanz – eingerahmt von lachenden Gesichtern.
Statt Freiobst aus “Ribbeck” hatte das Team vom Restaurant “Tempelgarten” Stärkungen und Erfrischungen im Angebot. Auch das eine Premiere.