Stolpersteine in Neuruppin am Gedenktag in neuem Glanz

Unter den metaphorischen Redewendungen sind die “Stolpersteine” seit dem Jahr 2000 ein Sonderfall. Es gibt sie wirklich. Der Künstler Günter Demnig begann mit der genehmigten Verlegung von kleinen Gedenksteinen aus Messing für die Opfer der NS-Diktatur. Im Gedenken an die Pogrome am 9. November 1938 wurden die Neuruppiner Stolpersteine am Sonntag gereinigt.

Von Volkmar Heuer-Strathmann

Vor dem Haus Karl-Marx-Straße 22 gilt das Gedenken der 1850 geborenen Jüdin Emilie Drucker, geborene Trepp. Man erfährt, dass sie 1943 nach Theresienstadt deportiert wurde, wo sie am 22. Juni verstarb. Hochbetagt.
Stolpersteine beziehen sich stets auf den letzten privaten Wohnort. Sogenannte “Judenhäuser” sind keine Adresse, da dort unter Zwang einquartiert wurde. Stolpersteine ohne namentlichen Bezug wie in Neuruppin in der Nähe der einstigen “Irrenanstalt” bilden eine Ausnahme. Würdigung und Erinnerung sollen hier dem nicht immer eindeutig zu klärenden Leidensweg gelten, auch den Verbrechen der Eunthanasie. Das Gedenken umfasst alle Opfergruppen der NS-Zeit.

Jedem Stolperstein in der Stadt galt die Aufmerksamkeit der Beteiligten.

Der 9. November 1938 war ein Mittwoch. Die Zerstörung von Synagogen, Wohnungen und jüdischem Eigentum hatte Methode, unterschied sich aber von Ort zu Ort. Die Täterschaft beschränkte sich keineswegs auf die SA. In Neuruppin galt die entfesselte Gewalt primär den Wohnungen, gezielt gewählten Häusern und materiellen Gütern, teils auch religiösen Gegenständen oder Kunstwerken. Leib und Leben waren in Gefahr. Mittendrin die bedrohten Kinder und Jugendlichen, Kranke und Betagte.
Der 9. November 2025 war ein Sonntag. Die Bürgerinnen und Bürger, die sich am frühen Nachmittag beim Jugendwohnprojekt “Mittendrin” ganz im Zeichen von “Neuruppin bleibt bunt” auf den Weg durch die Stadt gemacht hatten, konnten den Schulplatz ohne Schwierigkeiten passieren. Noch hatte das bunte Treiben am letzten Tag des “Martinimarktes” nicht so richtig begonnen. Mit nachdenklichen Wortbeiträgen und musikalischen Einlagen wurde dieser Gang durch die Straßen der Stadt verantwortungsbewusst und bewusst unspektakulär gestaltet.

Unterwegs zum nächsten Stolperstein im ewig bunten Neuruppin.
Fotos: VHS

Unter den Akteuren war auch Bürgermeister Nico Ruhle (SPD). Er hatte im “Kunstraum” bei der sehr gut besuchten Vernissage zur Ausstellung “Licht und Dunkel” ausdrücklich zur Teilnahme an der Stolpersteinaktion in Neuruppin aufgerufen.
Die auf die Putzaktion folgende musikalische Lesung im Jugendwohnprojekt kollidierte terminlich mit dem Konzert in der Klosterkirche. Synagogenmusik aus aller Welt erklang dort. Zuvor wurde von Pfarrer Klemm-Wollny ausdrücklich und eindringlich an die Ausschreitungen vom 9. November 1938 in Neuruppin und Umgebung erinnert. Namen von Jüdinnen und Juden, die in Neuruppin auf Stolpersteinen stehen, waren auch dort zu hören.

Feierliche Verleihung des Schinkel-Preises 2025 im Museum Neuruppin

“Wohnen – Mensch – Natur” – mit diesen Leitworten umreißt die Neuruppiner Wohnungsbaugenossenschaft “Karl Friedrich Schinkel” das sozial-ökologische Wohnprojekt “An der Pauline”. Mit dem Schinkel-Preis 2025 wird die Arbeit gewürdigt. Ein Fachvortrag bot Hintergrundinformationen. Bewegende Musik war zu hören. Am Ende wurde angestoßen – auch auf Karl Friedrich Schinkel.

Von Volkmar Heuer-Strathmann

Matthias Frinken begrüßte im Namen des Vorstandes der Karl-Friedrich-Schinkel-Gesellschaft die zahlreichen Gäste im Saal des Museums – darunter auch Bewohner der besagten Einrichtung. Frank Borchert, der Vorstandsvorsitzende der Genossenschaft, nahm die Urkunde als Zeichen der Auszeichnung entgegen. Zuvor hatten Nico Ruhle als Bürgermeister und Mario Zetsche als Leiter des Amtes für Kultur und Tourismus den Blick bereits auf das Schinkel-Jahr 2031 gerichtet. Dann liegt der Geburtstag von Karl Friedrich Schinkel 250 Jahre zurück. Aus dem Fontane-Jahr 2019 weiß man, wie wichtig eine gezielte und umfassende Vorbereitung ist für den Erfolg. Es war Zetsche anzumerken, dass man seitens der Stadt einiges vorhat, wenn die Stadtverordneten den Auftrag erteilen. Der ins Auge gefasste “Schinkelplatz” rund um die Kulturkirche könnte sicher deutlich vor 2031 eine “erste Adresse” in Neuruppins Kulturleben werden, gerade auch für Auswärtige, hatte sich Bürgermeister Ruhle schon bei der Gedenkveranstaltung am Denkmal überzeugt gezeigt.
Durch ihre wunderbaren musikalischen Beiträge an Bass und Schlagwerk erzeugten Karoline Körbel und Berit Jung eine Stimmung der Besinnung und der Lebensbejahung. Mal sind es fast zärtliche Berührungen und sanfte Striche, mal geht’s in hohe Frequenzen oder es wird kraftvoller geschlagen, um Zeichen zu setzen. Der Gesang der Frauen wirkt klar und stark: “We shall overcome” – Klangkunst als wirkungsvolle Botschaft. Wohltuend im Lärm der Wirrnisse der Welt. Herzlicher Applaus als Anerkennung und Dank.

Einfach faszinierend! Karoline & Berit mit Impro, Pop, Jazz und Gospel.
Foto: VHS

Für Matthias Frinken lässt sich die Entwicklung des Genossenschaftswesens in Deutschland seit 1868 in fünf Phasen einteilen. Der politische Kontext könnte kaum unterschiedlicher sein, doch die Idee gemeinsam verantworteter Lebensgestaltung blieb stets bestimmend. Was das heute im Land Brandenburg heißt, veranschaulichte Matthias Brauner vom Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen mit Zahlen und Grafiken aus den letzten Jahren. Nicht erst jetzt ist bezahlbares Wohnen ein Politikum. Als bedingt optimistisch wird man Brauners Worte und Daten verstehen können, etwa im Hinblick auf die neuen Angebote und die Auslastung. Demografie und Geografie, Infrastruktur und Politik kommen ins Spiel. Berlin als Metropole ist nicht weit entfernt und doch weit genug, wenn man modern, aber mit Muße, urban, also nicht in Waldeseinsamkeit wohnen, also leben will. Also in Neuruppin? Und wo zum Beispiel?

Schinkel-Preis 2025 Neuruppin
Einfach unverzichtbar! Matthias Brauner über das Genossenschaftswesen.
Foto: VHS

Frank Borchert konnte vor der Preisverleihung einen Blick von oben auf das Projekt “An der Pauline” präsentieren. Drohnen machen’s möglich. Das vielfältige Angebot von der modernen Kindertagesstätte bis zur behutsamen Alterspflege wurde sichtbar. Später ging’s in Wort und Film hinunter bis zu den technischen Anlagen. Vom ständigen Lernprozess war die Rede angesichts der ökologischen und materiellen Herausforderungen. Durch die persönlichen Worte der “Pauliner” wurde deutlich, welche Gedanken und Hoffnungen mit der Entscheidung für das Projekt einhergehen können. Dass nach ein paar Jahren nichts zu bereuen ist, war zu hören, aber auch zu spüren. Persönliche Freiheit und freiwillige Gemeinschaft prägen dieses Neuruppiner Projekt. Man kooperiert mit ESTA, den Stadtwerken und der Stadt und bleibt doch Wohngenossenschaft, also auch der von Matthias Frinken erwähnten großen Idee verbunden. Die Umsetzung war das Ergebnis von politischen Kämpfen, das könnte man heute leicht vergessen. Schon die 68er des 19. Jahrhunderts gingen eben in die Geschichte der Emanzipation im besten Bürgersinne ein. Auch durch Klugheit.

Einfach schön! Ein Blick auf das Wohn- und Lebensprojekt “An der Pauline”
Foto: WBG Neuruppin

“Wie schön!”, war mehr als ein spontaner Kommentar aus dem Publikum im Hinblick auf die Ästhetik des großen Baukomplexes. Zu Fuß oder mit dem Rad kann man sich leicht einen Eindruck von der Atmosphäre verschaffen. Gärten gehören natürlich auch dazu. Dann sieht man auch, dass die Arbeit weitergeht. Nun am alten Paulinenauer Bahnhof. Denkmalpflege im Neubaugebiet – sollte man gar nicht denken. WOMENA – ein Projekt im Sinne von Karl Friedrich Schinkels Satz: “Überall ist man nur da wahrhaft lebendig, wo man Neues schafft.”
Außer der Urkunde und dem Preisgeld von 1000,00 € wurden Präsente überreicht. Kräftiger Applaus galt den Ausgezeichneten, aber auch den Veranstaltern um Matthias Frinken und Otto Wynen. Als Vorstandsmitglieder waren Angrid Marienfeld-Lungfiel und Gottfried Lungfiel extra aus Hamburg angereist, um an der Gedenkveranstaltung am Schinkel-Denkmal und an der Preisverleihung teilzunehmen. Und das Team um Carola Aglaia Zimmermann vom Museum Neuruppin hatte keine Mühe gescheut, um auch den Ausklang mit Sekt und kleinen Köstlichkeiten festlich und feierlich zu gestalten. Sonderapplaus!

Würdevolles Gedenken an den Tod von Karl Friedrich Schinkel im Jahre 1841

Schinkeldenkmal auf dem Kirchplatz

Sein Tod muss qualvoll gewesen sein. Das Gedenken an Karl Friedrich Schinkel, den Sohn Neuruppins, der 1841 in Berlin nach einem bewegten Leben und Monaten des Bangens und Leidens verstarb, war würdevoll. Spät am Nachmittag konnte man am Denkmal mit Passanten ins Gespräch kommen, die sich über die Blumen wunderten.

Von Volkmar Heuer-Strathmann

“Ein Geburtstag?” Selbst ein paar Einheimische zeigten sich uninformiert. Es bleibt also noch viel zu tun bis zum Jahr 2031, wenn Schinkels Geburt 250 Jahre zurückliegt. Hier ging es eigentlich primär um seinen Tod. Der Vorstand der Karl-Friedrich-Schinkel-Gesellschaft hatte eingeladen. Und es kamen keineswegs nur Mitglieder.
Matthias Frinken erinnerte als Mitglied des Vorstands der KFSG an die Kindheit von Karl Friedrich in Neuruppin. Der Vater war Pfarrer. Er war – genauso wie die Mutter -ziemlich modern eingestellt. Man förderte den Nachuchs. Das um sich greifende Feuer im Jahre 1787 war eine Zäsur für die Stadt, für die Familie, für Karl Friedrich. Der Vater starb kurz darauf. Die Mutter bezog mit ihren Kindern eine kleine Wohnung in der Fischbänkenstraße im Predigerwitwenhaus. Da mehrere betroffene Familien Zuflucht fanden, dürfte es beengt gewesen sein. Ob hier der Wunch nach Weite gewachsen ist? Landschaftlich, aber auch räumlich? Der Museumskundler Jan Mende spricht in seinem 2024 erschienenen Werk über Schinkel und sein Seelenleben von einer “Gigantenwohnung” in der Berliner Bauakademie. Dort verstarb Karl Friedrich Schinkel am 9. Oktober 1841. Seine geliebte Frau Susanne war in seiner Nähe.
Bürgermeister Nico Ruhle würdigte den berühmten Architekten, Maler und Designer. Ruhle kann sich vorstellen, folgt man seinen Worten, dass ein “Schinkelplatz” rund um die Kulturkirche in mehrfacher Hinsicht auch werbewirksam sein würde, ganz abgesehen vom biografischen Bezug. Die Pfarrkirche stand ja dort, ebenso das Pfarrhaus. Wo genau, war wieder einmal Thema unter den Versammelten. Geworben für die zahllosen Events in der Kulturkirche würde mit dieser Adresse. Gäste von auswärts suchten den beliebten Veranstaltungsort nicht mehr am Kirchplatz. Im Mittelpunkt des evangelisch-lutherischen Gemeindelebens steht ja ohnehin die Klosterkirche am Ruppiner See. Ob es dennoch Einwände gibt gegen den neuen Namen? Die Debatte ist eröffnet. Das Wort von der “Fontane- und Schinkelstadt” fiel sogar.
Matthias Frinken sieht eine Chance des Jubiläumsjahrs in der Kooperation mit Partnern aus der Welt der Kultur und der Wissenschaften. Da ist man längst tätig geworden. Und es geht nicht nur um Berlin, die andere “Schinkelstadt”, oder Potsdam, die Preußenstadt. Zu Hause ist man damit befasst, den Auftritt der Karl-Friedrich-Schinkel-Gesellschaft zu erweitern, das Haus zu öffnen und gute Gründe zu bieten, die Räume zu betreten. Erst kürzlich waren vierzig dem Denkmalschutz verpflichtete Gäste mit Günter Rieger im Schinkel-Haus. Matthias Frinken referierte. Paar Tage später eine Gruppe Frauen, die an verschiedenen Brandenburger Volkshochschulen tätig sind. Otto Wynen faszinierte, indem er mit Wolfgang Harichs köstlichem Vergleich von Neuruppin und Neuyork brillierte. Das liegt nicht im Alten Land. Es geht um Planquadrate, um Straßenzüge, um Plätze – in Neuruppin der Not geschuldet. Der Verfasser las Liebesschwüre von Schinkel. Bei Susanne wusste er auch die zugesandten Reisetagebücher in guten Händen. Kein Wunder, dass das Versprechen der Damen zu hören war, sich fürderhin mehr mit Schinkel und Neuruppin zu befassen.

Karl Friedrich Schinkel Neuruppin
Das Schinkeljahr 2031 schon klar im Blick: Nico Ruhle und Matthias Frinken.
Foto: VHS

Tagestouristen aus NRW zeigten sich am Rande der Veranstaltung am Samstag am Denkmal beeindruckt von den Bemühungen in Neuruppin, Schinkel nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. “Alles Gute für Ihre Bemühungen”, riefen sie am Ende rüber. Der alljährlich verliehene Schinkel-Preis gehört auch dazu. Die Zeit reichte, um das Museum zu erreichen, wo wieder einmal die Preisverleihung stattfand. In diesem Jahr an die Wohnungsbaugenossenschaft “Karl Friedrich Schinkel”.

Das vereinigte Deutschland wird 35 – ein Gesprächsabend im Museum

Tim Eisenlohr war als junger Umweltaktivist in der DDR eine Zeitlang in Haft. Seine Erinnerungen, seine Gegenwartsbetrachtung und sein Blick auf Kommendes – all das allein könnte abendfüllend sein. Doch im Museum Neuruppin hatte man sich in Kooperation mit der Bundesstiftung zur “Aufarbeitung der DDR-Diktatur” für eine offene Podiumsdiskussion entschieden. Die war auch nicht uninteressant und bot Stoff für mindestens fünf Abende.

Von Volkmar Heuer-Strathmann

Neben Tim Eisenlohr saßen Nico Ruhle, Neuruppins Bürgermeister, und Ariane Feierbach, die Ortsvorsteherin in Wuthenow, auf dem Podium. Um eine lockere Moderation bemühte sich Tim Köhler von besagter Stiftung. Feierbach ist in Gildenhall aufgewachsen, Ruhle in Dessau, Eisenlohr in Ost-Berlin. Von der “Dritten Generation” war die Rede, trotz gewisser Altersunterschiede. So war Nico Ruhle erst acht Jahre alt im Jahr der Maueröffnung. Tim Eisenlohr erlebte das Schlüsselstück als Jugendlicher aufgrund einer Ausreisegenehmigung (schwere Erkrankung der Mutter) bereits in West-Berlin. Und Ariane Feierbach eben in Neuruppin, “drüben”, eben in Gildenhall. Und sie erinnert sich auch gerne an die Kindheit in der DDR. Warum die Eltern mal wegwaren zu einer “Versammlung in der Kirche”, wurde daheim nicht besprochen. Aber es lag was in der Luft.
Ein Staat – drei Lebensläufe recht unterschiedlicher Art, schon im Hinblick auf das Erziehungssystem der DDR. Das war übrigens Unterrichtsthema in den Schulen der BRD. Welches Bild vermittelt wurde, wäre mit Bezug auf einzelne Bundesländer zu vertiefen. Tim Eisenlohr gibt ein Stichwort aus seiner Jugend. Die “Uniformierung” habe ihn an die HJ erinnert. Er spielte damit nicht allein auf die “Blauhemden” der FDJ an.
Nico Ruhle sagt womöglich den Satz des Abends: “Die Wende ist an keiner Familie in der DDR spurlos vorüber gegangen.” Arbeitsosigkeit, das Thema der frühen Jahre. Mehr berufliche Sicherheit, der Wunsch für die kommenden. Berufsorintierung für die Jugend im Osten, geprägt von Kräften aus dem Westen…Was die “neue Zeit” für Menschen bedeutete, die vorher aus der DDR geflohen oder eben ausgereist waren, war später kurz Thema. Wieder was für einen ganzen Abend. Nicht anders die ersten Jahre mit brutaler Gewalt rechtsradikaler junger Leute im Osten, etwa gegen Vietnamesen, also ehemalige “Vertragsarbeiter” und ihre Familien. Aus dem Publikum wird “Oststolz” in den Raum geworfen als brisantes Thema der Gegenwart. Erneutes Schulversagen? Wie kann man überhaupt erfassen, was 1990 als Aufgabe vor den Lehrkräften stand? Pauschalvorwürfe wurden vehement zurückgewiesen. Applaus.

Tim Eisenlohr – eine Biographie, die größtes Interesse weckte.

“Auch wird gemeinsam mit dem Publikum der Frage nachgegagen, was ‘Einheit’ in einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft bedeutet und wie Einheit und Demokratie krisenfest und zukunftssicher gestaltet werden können.” So hieß es vielversprechend in der Einladung. Zu viel versprochen! Hochkomplex ist schon allein der Blick zurück. Nehmen wir nur die heikle Frage nach den Voraussetzungen in der SBZ und in den drei Westzonen. Nächstes Abendthema, faktenbasiert. Man kommt nicht so leicht zur Frage, wie die AfD in Zeiten der Verunsicherung an Zulauf und Zustimmung gewinnt in Bundesländern, in denen man die Internationale bis November 1989 noch auswendig lernte an den Schulen. Der Hinweis auf “ein generelles Misstrauen im Osten gegenüber den Staatorganen” wirkt plausiblel nach 40 Jahren SED-Propaganda. Aber “Staatssozialismus” auf SED-Art und “Sozial- und Rechtsstaatlichkeit” auf BRD-Art gleichsetzen? Nächster packender Abendtermin.

Ein Fotogruß zum erinnerungsschweren 35. Geburtstag.
Fotos: VHS

Dann wäre auch ausführlich über die Verfassung zu sprechen, also das Grundgesetz und die im Museum mehrfach kritisierte Tatsache, dass das Geburtstagskind sich kein neues Fundament gegeben hat. Über “Vater und Mutter” wäre zu reden, in diesem Fall mal im Plural. Über die “Bonner Republik”, die “Westbindung”, das “Wirtschaftswunder”, die “formierte Gesellschaft” und die “APO”, die NATO, die “Friedensbewegung” und die untergründige Verbindung mit Oppositionellen in der DDR. An Literatur ist doch auch kein Mangel, sachlich oder belletristisch, biografisch oder dramatisch. Dann die Film- und Klangkunst. Eben erst hat Kaleb Erdmann mit dem Roman “Die Ausweichschule” einen Düsseldorfer Blick auf den Amoklauf von Erfurt im Jahr 2002 geworfen. Einladen in den Fontane-Kosmos? Und endlich ein Spielfilm über die kurz angesprochene “Befreiung der Heide”? Oder ein Bühnenstück von der Sehnsucht der Jahrzehnte von ziemlich schlechten Freunden Geplagten nach Stille und Selbstbestimmung?
Dass Tim Köhlers Gäste im Gemeinwesen engagiert sind oder sogar voll berufstätig, hat sicher auch Wurzeln in der DDR. Das wurde nicht unterschlagen. Und man konstatierte, in der BRD seien die Kenntnisse im Hinblick auf die DDR 1990 gering gewesen. Und das Interesse sei bis heute nicht eben groß. Und umgekèhrt? Na? Mal ehrlich! Vom Westfernsehen und seiner Prägekraft war mehrfach die Rede. Vom Siegeszug der privatkapitalistischen Privatsender in der BRD und ihrer Reklameparade nicht – zugangsbedingt, beschränkt mindestens bis zum Tag der Geburt. Drüben übrigens kurz und hilflos in den 80ern heißdiskutuert, wie heute die asozialen und sozialen Netze im Geburtstagsland.
Was sagt ein Bürger, selbst Historiker, der sich 2025 “in Wuppertal an das Zwickau von 1992 erinnert fühlt”, eigentlich über sein Selbst-, sein Deutschland- und sein Weltbild? Nächstes verzwicktes Thema, nicht leicht zu wuppen: Rezession zur Geburtstagszeit – ein Blick aus Neuruppin und OPR in den Spiegel und auf die je einzigartigen Regionen der Republik…

„Ein Mensch zweiter Klasse“

Steinmeier und Ruhle an der Emil Wendland Gedenktafel

Vor 33 Jahren wurde Emil Wendland im Neuruppiner Rosengarten von drei Skinheads ermordet. Der Fall zeigt, wie tödlich die Ideologie sozialer Ausgrenzung wirken kann – und wie wenig Obdachlose in unserer Gesellschaft zählen.

Ein Gedenken erinnert nun an das sozialdarwinistische Hassverbrechen.

Von Macron

NEURUPPIN. Es ist eine Sommernacht im Juli 1992, als drei junge Männer durch den Rosengarten ziehen – ein Park im Zentrum von Neuruppin. Sie haben sich verabredet zum „Penner klatschen“, wie sie es nennen. Ein menschenverachtender Begriff für ihr Vorhaben: Obdachlose oder als „Assis“ abgewertete Menschen aufspüren und zusammenschlagen.

Sie finden ihr Opfer auf einer Parkbank. Emil Wendland, 50 Jahre alt, schläft dort, alkoholisiert. Einer der drei, Mirko H., tritt zu ihm, weckt ihn, schlägt zu. Dann folgen die anderen. Sie schlagen und treten den Mann. Als sie sich kurz entfernen, kehrt Mirko H. zurück – und sticht siebenmal mit einem Messer auf den bereits schwer verletzten Emil Wendland ein. In Brust und Bauch. Wenig später stirbt Wendland an seinen Verletzungen.


Das Urteil: Totschlag mit sozialdarwinistischem Motiv

Im Oktober 1993 verurteilt das Landgericht Potsdam den Haupttäter Mirko H., 20 Jahre alt, wegen Totschlags zu sieben Jahren Jugendstrafe. In der Urteilsbegründung heißt es, der Täter habe Emil Wendland für „einen Menschen zweiter Klasse“ gehalten. Ein Mittäter wird wegen schwerer Körperverletzung zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt. Auch das Gericht erkennt den ideologischen Hintergrund der Tat an: Es sei darum gegangen, „in der Nacht Assis aufzuklatschen“ – das Zusammenschlagen von Personen, die als „missliebig“ oder „verachtenswert“ galten.

Die Richter benennen, was lange Zeit verschwiegen wurde: Die Täter handelten aus einem sozialdarwinistischen Weltbild heraus – einer Ideologie, die den Wert eines Menschen nach sozialer Stellung, Leistungsfähigkeit und Anpassung bemisst.

**Ein Mord mit politischem Motiv – aber lange nicht als solcher anerkannt

Was folgte, war nicht nur ein Mord, sondern auch ein Fall von institutionellem Wegsehen. Obwohl die Täter im Prozess sagten, sie hätten aus Hass auf Obdachlose gehandelt, stuften Ermittler die Tat nicht als politisch motiviert ein. Das Landgericht Neuruppin verurteilte den Haupttäter 1993 wegen Totschlags zu sieben Jahren Jugendstrafe, einen Mittäter zu drei Jahren wegen schwerer Körperverletzung. Vom gesellschaftlichen Kontext – rechte Gewalt, Sozialdarwinismus – war kaum die Rede.

Erst Jahre später, nach Recherchen von Initiativen wie der Opferperspektive Brandenburg, wurde die Tat offiziell als rechtsextrem motivierter Mord anerkannt.

**Wendland war mehr als ein Opfer

Von Emil Wendland ist nicht viel überliefert. Er war alkoholkrank, wohnungslos, lebte in Notunterkünften oder auf der Straße. Dass kaum jemand mehr über ihn weiß, liegt nicht nur an seiner Lage – sondern auch an einem gesellschaftlichen Desinteresse. Er war ein Mensch am Rand, ein Mensch, den viele nicht sehen wollten. Genau das machte ihn zum leichten Ziel.

Die Täter sprachen nicht von „Linken“, „Ausländern“ oder „Anderen“ – sie sprachen von „Abschaum“. Ihre Tat war Ausdruck eines sozialdarwinistischen Denkens, wie es im rechtsextremen Milieu verbreitet ist: Nur wer „leistet“, gehört dazu. Wer „schwach“ ist, zählt nicht.

Ein Gedenken – zu spät?

Am Dienstagmittag, 33 Jahre nach der Tat, gedenken Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gemeinsam mit Neuruppins Bürgermeister Nico Ruhle , Vertreter:innen von Neuruppin bleibt bunt und dem Mittendrin in einer Schweigeminute an Emil Wendland. Im Rosengarten legen sie am Mahnmal Blumen nieder.

Doch noch immer stellen sich viele in der Stadt auch eine andere Frage: Warum hat es so lange gedauert, bis Emil Wendland öffentlich gewürdigt wurde? Warum wurde sein Tod nicht sofort als das erkannt, was er war: Ein rechtsradikaler sozial motivierter Hassmord – Ausdruck eines enthemmten Klassenhasses von rechts.

Bundespräsident Steinmeier und Nico Ruhle im Gespräch mit Vertreter:innen von Neuruppin bleibt bunt und des „Mittendrin“ Foto: Wolfgang Frese

Wer zählt – und wer nicht?

Emil Wendland war ein Mensch mit Brüchen. Alkoholkrank, wohnungslos, sozial isoliert. In den Augen der Täter war das Grund genug, ihn anzugreifen. Und auch nach seinem Tod blieb die öffentliche Reaktion verhalten. Kein Aufschrei, keine große Mahnwache. Die Würde des Opfers wurde überlagert von einem Schweigen, das viel über die Stellung armer und obdachloser Menschen in Deutschland sagt.

Dabei war Wendland nicht das erste Opfer solcher Gewalt. Schon in den 1990er Jahren registrierten Opferberatungen zahlreiche Übergriffe auf Wohnungslose, auch in Brandenburg. Die Täter kamen häufig aus der rechten Szene – ihr Weltbild geprägt von Abwertung, Selbstüberhöhung und Gewalt.

Erinnern an Opfer rechter Gewalt. Foto: Macron