Neuruppin erinnert an die Reichspogromnacht

Am 9. November 2025 erinnerten das JugendWohnProjekt „MittenDrin“ und das Aktionsbündnis „Neuruppin bleibt bunt“ an die Opfer der Reichspogromnacht. Rund 40 Teilnehmende, darunter Bürgermeister Nico Ruhle, Vertreter*innen von Omas gegen Rechts und Move e.V., setzten ein deutliches Zeichen gegen Faschismus und Menschenfeindlichkeit.

Von: macron

Demonstration und Stolperstein-Reinigung

Die Demonstration startete am JWP „MittenDrin“ und führte durch die Innenstadt zu Orten früheren jüdischen Lebens. Dort wurden Stolpersteine gereinigt und Kerzen entzündet. Jugendliche des Projekts lasen Texte und Zeitzeugenberichte von Holocaust-Überlebenden vor.

„Da die letzten Überlebenden des Holocaust sterben, ist es unsere Aufgabe, ihre Erfahrungen weiterzutragen und in der Erinnerung zu verankern – gerade jetzt, wo menschenverachtende Tendenzen wieder populärer werden“, erklärte Jan Henning, Pressesprecher des JWP.

Abschlusskundgebung vor dem AfD-Büro

Die Demonstration endete mit einer Kundgebung vor dem neuen AfD-Büro in der Fischbänkenstraße 20, einem Gebäude, das einst der jüdischen Familie Silberberg gehörte. Redner*innen erinnerten an die historische Verantwortung und forderten, die Vermietung an die AfD kritisch zu hinterfragen.

„Menschlichkeit ist unverhandelbar – wir müssen alles dafür tun, dass sich die Ereignisse des Nationalsozialismus nicht wiederholen“, betonte Tamara Lux, Pressesprecherin des JWP.

Musikalische Lesung mit Kutlu Yurtseven

Im Anschluss begeisterte Kutlu Yurtseven von der Microphone Mafia das Publikum mit einer musikalischen Lesung aus dem Buch „Eine ehrenwerte Familie“. Er erzählte von seiner Jugend als Sohn türkischer Einwanderer, seinem Weg zum Rap und der Zusammenarbeit mit der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano.

Mit Humor, Haltung und Tiefgang erreichte Yurtseven besonders das junge Publikum und verband Erinnerungskultur mit gelebtem Engagement gegen Rassismus und Ausgrenzung.

Erinnerungskultur als Verantwortung

Das Gedenken in Neuruppin machte deutlich: „Nie wieder“ ist mehr als eine historische Mahnung – es ist eine Verpflichtung, täglich für eine offene und solidarische Gesellschaft einzutreten.

Quelle: Jugendwohnprojekt „Mittendrin“ e.V.

Stolpersteine in Neuruppin am Gedenktag in neuem Glanz

Unter den metaphorischen Redewendungen sind die “Stolpersteine” seit dem Jahr 2000 ein Sonderfall. Es gibt sie wirklich. Der Künstler Günter Demnig begann mit der genehmigten Verlegung von kleinen Gedenksteinen aus Messing für die Opfer der NS-Diktatur. Im Gedenken an die Pogrome am 9. November 1938 wurden die Neuruppiner Stolpersteine am Sonntag gereinigt.

Von Volkmar Heuer-Strathmann

Vor dem Haus Karl-Marx-Straße 22 gilt das Gedenken der 1850 geborenen Jüdin Emilie Drucker, geborene Trepp. Man erfährt, dass sie 1943 nach Theresienstadt deportiert wurde, wo sie am 22. Juni verstarb. Hochbetagt.
Stolpersteine beziehen sich stets auf den letzten privaten Wohnort. Sogenannte “Judenhäuser” sind keine Adresse, da dort unter Zwang einquartiert wurde. Stolpersteine ohne namentlichen Bezug wie in Neuruppin in der Nähe der einstigen “Irrenanstalt” bilden eine Ausnahme. Würdigung und Erinnerung sollen hier dem nicht immer eindeutig zu klärenden Leidensweg gelten, auch den Verbrechen der Eunthanasie. Das Gedenken umfasst alle Opfergruppen der NS-Zeit.

Jedem Stolperstein in der Stadt galt die Aufmerksamkeit der Beteiligten.

Der 9. November 1938 war ein Mittwoch. Die Zerstörung von Synagogen, Wohnungen und jüdischem Eigentum hatte Methode, unterschied sich aber von Ort zu Ort. Die Täterschaft beschränkte sich keineswegs auf die SA. In Neuruppin galt die entfesselte Gewalt primär den Wohnungen, gezielt gewählten Häusern und materiellen Gütern, teils auch religiösen Gegenständen oder Kunstwerken. Leib und Leben waren in Gefahr. Mittendrin die bedrohten Kinder und Jugendlichen, Kranke und Betagte.
Der 9. November 2025 war ein Sonntag. Die Bürgerinnen und Bürger, die sich am frühen Nachmittag beim Jugendwohnprojekt “Mittendrin” ganz im Zeichen von “Neuruppin bleibt bunt” auf den Weg durch die Stadt gemacht hatten, konnten den Schulplatz ohne Schwierigkeiten passieren. Noch hatte das bunte Treiben am letzten Tag des “Martinimarktes” nicht so richtig begonnen. Mit nachdenklichen Wortbeiträgen und musikalischen Einlagen wurde dieser Gang durch die Straßen der Stadt verantwortungsbewusst und bewusst unspektakulär gestaltet.

Unterwegs zum nächsten Stolperstein im ewig bunten Neuruppin.
Fotos: VHS

Unter den Akteuren war auch Bürgermeister Nico Ruhle (SPD). Er hatte im “Kunstraum” bei der sehr gut besuchten Vernissage zur Ausstellung “Licht und Dunkel” ausdrücklich zur Teilnahme an der Stolpersteinaktion in Neuruppin aufgerufen.
Die auf die Putzaktion folgende musikalische Lesung im Jugendwohnprojekt kollidierte terminlich mit dem Konzert in der Klosterkirche. Synagogenmusik aus aller Welt erklang dort. Zuvor wurde von Pfarrer Klemm-Wollny ausdrücklich und eindringlich an die Ausschreitungen vom 9. November 1938 in Neuruppin und Umgebung erinnert. Namen von Jüdinnen und Juden, die in Neuruppin auf Stolpersteinen stehen, waren auch dort zu hören.

Chorgesang aus Synagogen der Welt am Tag des Pogromgedenkens

Rohe Gewalt, bösartige Brandstiftung, Sachbeschädigung und Demütigung prägten die Nacht der NS-Pogrome am 9. November 1938 in ganz Deutschland. Das Gedenken daran in der Klosterkirche gemeinsam mit dem Berliner Synagogal Ensemble zu gestalten, verändert die Blickrichtung: Jüdische Religiosität rückt in den Mittelpunkt. Ein Konzert ohnegleichen!

Von Volkmar Heuer-Strathmann

Pfarrer Thomas Klemm-Wollny stellte die Erinnerung an jüdische Familien aus Neuruppin an den Anfang der gut besuchten Veranstaltung. Die Leidensgeschichten sind gut dokumentiert. Jedes Beispiel berührt. Doch statt aus den Verbrechen Klagemusik werden zu lassen, entführt das Synagogal Ensemble Berlin in die Welt der lebendigen Synagogen, des Gemeindelebens, der Liturgie, Psalmen inbegriffen. Matthias Noack erwies sich als ein sicherer Begleiter an der Orgel und am Elektropiano.
Für diesen Auftritt hat Dirigentin und Initiatorin Regina Yantian vor sich die Sopranistinnen Lea Kohnen un Liza Steinbock, den Tenor Berk Altan, den Bass Alexander Konieczka und als Altstimme Diana Kantner. Bei diesem Berliner Ensemble ist der Wechsel die Regel. Das mag einer der Gründe für die wunderbare Lebendigkeit sein. Als Solistin hätte Lea Kohnen in einem Konzert der üblichen Art sicher viel Applaus bekommen. Ihre Imagination einer russischen Synagoge durch ihr “Schomer Jisroel” von Samuel Alman bewegt zutiefst. Sie brennt für den Glauben. Müssen Worte wie “Nation” und “Überrest” die Erde brennen lassen?

Thomas Klemm-Wollny, der Chor und die Dirigentin Regina Yantian (rechts).
Zwei starke Stimmen: die Sopranistinnen Lea Kohnen und Liza Steinbock.
Foto: VHS

In der Klosterkirche herrschte andächtige Aufmerksamkeit. Applaudiert wird erst am Ende, dann aber umso mehr. Textblätter verkleinern die Sprachhürden ein wenig, etwa wenn “Chischki Chiski” von Abramahm Casers aus den Niederlanden angestimmt wird oder “Ja’ale” von Wolf Schestapol aus der Ukraine erklingt, beides ehrfürchtige Gebete der Jüdinnen und Juden.
Werke des deutsch-jüdischen Komponisten Louis Lewandowski bilden einen Schwerpunkt, ohne allzu viel Schwere. Fröhlicher Gesang öffnet die Tür der Synagoge, mit andächtigem Gesang beginnt der Schabat, hymnischer Gesang fein verwobener Stimmen erklingt, um Worte des Gottvertrauens zu offenbaren. Bleibt Israel, bleibt “Jeruschalaim Schel Sahaw” – mit einer Geige im Mittelpunkt. Kein Streicher in Sicht. Also singen die unaufgeregt dirigierten Sängerinnen und Sänger, als hätte Naomi Schemer gedichtet: “Jerusalem aus Gold, aus Kupfer, Licht und Stein, lass mich für alle deine Lieder die Stimme sein.” Standing Ovations! Blumengebinde! Zugabe!
Der Pfarrer aber ließ die Versammelten nicht ohne Mahnung raus aus dem Gotteshaus. Natürlich weiß er, dass auch die sogenannten Deutschen Christen nicht erst 1938 schwere Schuld auf sich geladen haben. Der Gefährdung der Demokratie engagiert entgegenzuwirken, das war sein Appell als Christ und sein Wunsch: “Shalom!”

Würdigung und Mahnung – eine Ausstellung zur jüdischen Familie Silberberg

Ob der jüdische Unternehmer und Kunstsammler Max Silberberg 1942 in Treblinka oder in Auschwitz von den Nazis ermordet wurde, weiß man nicht. In der Ausstellung “Licht und Dunkel – eine Hommage an Max Silberberg” werden Werke von Gregory Berstein gezeigt. Max kam 1878 in Neuruppin zur Welt. Bei der sehr gut besuchten Vernissage am 9. November ging es auch um die Pogrome im November 1938 und um das Schicksal weiterer Familienmitglieder.

Von Volkmar Heuer-Strathmann

Klammern wir einmal aus, wie viel Prominenz aus Politik, Kultur und Gesellschaft versammelt war, als Kurator Johannes Bunk die Gäste begrüßte. Folgen wir fast nur den Worten von Günter Hommel, nachdem ein paar Motive vorgestellt sind, mit denen der in Köln lebende entfernte Nachfahre Gregory Berstein Erinnerung und Würdigung zum Ausdruck bringt. Ein Herzensanliegen, das war ihm anzumerken, als er sich selbst kurz an die Gäste wandte.
“Shabat” und “Kunstsammler” sind eigentlich unspektakulär, zeigen womöglich Max’ Welt, von Wärme eingerahmt oder umströmt. “Traumbild II und I” erschließen sich nicht ganz einfach. “Vermögenserklärung” ist in kleinen Buchstaben zu entziffern. Max’ Antlitz ist zu sehen, wo das andere Bild schwarz bleibt und diesen einen Menschen klar konturiert.

Günter Hommel und Gregory Berstein im Kunstraum nah am “Kunstsammler”.

Hinter dem surreal anmutenden Motiv mag der Druck der braun eingefärbten Finanzbehörde stecken, alle Eigentumsverhältnisse und alle Transaktionen offen zu legen. Steuer- und Abgabenpolitik waren Teil der Repression, bis zu den Bestimmungen, die bei Auswanderung.gegen Juden und Jüdinnen in gnadenloser Strenge geltend gemacht wurden. Günter Hommel gab entsprechede Hinweise, nachdem die wichtigsten biografischen Daten der Familie knapp skizziert waren. Die Angaben sind auch auf der Homepage des Kunstraums zu finden.

“Traumfiguren II und I” – im Zusammenspiel ein Stück Tiefenspsychologie.
Fotos: VHS

Neuruppin, Hamburg, Beuthen, Breslau – das sind die wesentlichen Stationen. In Neuruppin geht’s als Familie von der damaligen Friedrich-Wilhelm-Straße 15 in die Fischbänkenstraße 20. Dort hat der AfD-Bundestabgordnete Götz Frömming erst kürzlich die Geschäftsstelle der Partei eingerichtet.
In seinem Grußwort wies Bürgermeister Nico Ruhle (SPD) auf den hinstorischen Hintergrund der Pogrome hin, auf Zerstörung und Verfolgung und das ewige Gebot der Wachsamkeit. Wenn aus Worten Taten folgten, könne es schon zu spät sein. Sein Dank galt allen, die in den letzten Jahren an der Vorbereitung dieses Projekts mitgewirkt haben. Bald wird eine Informationstafel an der Karl-Marx-Straße auf Max Silberberg, seine Familie und das Geschäft hinweisen. Mario Zetsche zeigte als Zuständiger, was man seitens der Stadt zeigen wird.
Die Ausstellung ist bis zur Finissage am 30. November von Mittwoch bis Samstag von 15 bis 18 Uhr geöffnet, an Sonn- und Feiertagen von 11 bis 13 Uhr. Besuch nach Vereinbarung ist ebenfalls möglich.

Jerusalem-Hain und jüdischer Friedhof als Orte der Besinnung

Viele Menschen kommen täglich am Jerusalem-Hain vorbei. Sicher meistenteils mit dem PKW oder einem anderen Gefährt. Auf dem Friedhofsteil, der in Neuruppin an Gräber von Juden und Jüdinnen erinnert, sind wohl eher selten Menschen zu sehen. Er liegt ganz am Rande. Aber zwischen beiden benachbarten Orten gibt es eine tiefe Verbindung. Sie weist sogar noch weit über den jüdischen Glauben hinaus.

Von Volkmar Heuer-Strathmann

“Wünscht Jerusalem Frieden”, steht da auch in hebräischen Schriftzeichen auf den beiden Stelen. Blutbuchen prägen das Bild. Die ersten drei wurden 1996 angepflanzt. Auf dem Friedhof erfahren Interessierte, wie sich das Leben der jüdischen Gemeinde im Rückblick darstellt. Die Auflösung erfolgte 1941. Die Jahre zuvor waren der erste Höhepunkt der Verfolgung. In den Jahren danach wurde Vernichtung Programm, beginnend mit der Berliner Wannsee-Konferenz ab 20. Januar 1942. Mit Stolpersteinen wird in der Stadt an einzelne Schicksale und die Unmenschlichkeit der Verantwortlichen erinnert.

Stadtbild von Wilhelm Gentz anlässlich jenes Einzugs in Jerusalem.

Wilhelm Gentzens Werk “Der Einzug des Kronprinzen von Preußen in Jerusalem 1869” zeugt von einer anderen Zeit und Sicht. Und von Kunstfertigkeit des gebürtigen Neuruppiners. Zum kulturellen Gedächtnis gehört es auch, wie Regelind Heimann sorgfältig aufzublättern weiß in ihrer Buch gewordenen Dissertation. Die Doktorandin versucht plausibel und anschaulich zu machen, hier liege kein koloniales Gebaren vor. Sie verschweigt nicht, dass es auch Interpretationen gibt, die den “blonden germanischen Fürstensohn in der heiligen Stadt” sehen. Heimann indessen resümiert: “Gentz war keineswegs der Meinung, Europa sei der Welt des Orients geistig und moralisch überlegen.”

Blick auf Reste der alten Friedhofsmauer zur Herbstzeit.

Jerusalem ist durch den Gaza-Krieg nach dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 ein wenig aus den Schlagzeilen gerückt. Die lange Zeit in Potsdam lehrende Religionswissenschaftlerin Angelika Neuwirth hat mit ihren Werken eine Grundlage religionsübergreifender Betrachtung geschaffen. Ausgangspunkt: die Stadt Jerusalem, der Ort der drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam. Neuwirth erinnert daran, dass die Gebetsrichtung der Moslems zunächst Jerusalem war. Bei den regelmäßigen Jerusalemer Religionsgesprächen treffen Christen und Moslems aufeinander. Gotthold Ephraim Lessing hat sein Drama “Nathan der Weise” in Jerusalem angesiedelt. Beim Ringen um eine stabile politische Struktur gerät Jerusalem in den Fokus.
Die Stelen sind Ausdruck der Friedenssehnsucht, der Utopie. Der Platz wird durch Neuruppiner Bürger und Bürgerinnen im Zeichen der “Lions” gepflegt. Es verlangt nicht viel, dort anzuhalten. Es gibt viel, dort im Jerusalem-Hain innezuhalten.

Synagoge und Friedhof als Orte des Gedenkens an die jüdische Gemeinde

Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Neuruppin muss sehr wechselhaft gewesen sein. Seit kurzer Zeit erinnert man in der Nähe des Weinbergs an die verschiedenen Friedhöfe, auch mit einer Texttafel. In der Virchowstraße allerdings sucht man vergeblich nach Informationen, obwohl dort über Jahrzehnte die Synagoge stand, also der Mittelpunkt des Gemeindelebens.

Von Volkmar Heuer-Strathmann

In verschiedenen Beiträgen hat sich Uwe Schürmann der jüdischen Gemeinde in Neuruppin gewidmet. “82 Jahre lang, von 1859 bis 1941, bestand in Neuruppin eine jüdische Gemeinde”, erfahren Interessierte. Ein Foto erinnert in dem von Peter Böthig und Stefanie Oswalt herausgegebenen Band “Juden in Rheinsberg” an die Synagoge in Neuruppin. Dem jüdischen Selbstverständnis entsprechend, gilt den Gräbern besondere Aufmerksamkeit. Eben für die Ewigkeit.

Friedhofsanlage und Erinnerungzeichen in der Nähe des Ruppiner Sees.
Foto: VHS

Im Jahr 2024 wurde von einem Aktionsbündnis in der Nähe des Weinbergs ein Ensemble geschaffen, mit dem an die Grabstätten von Verstorbenen erinnert wird. Ein Grabstein steht als Gedenkstein im Mittelpunkt. Stelen markieren die alte Einfassung. Die Information auf einer Tafel am Wege ist leicht zu finden. Großes Aufsehen würde nicht zum Anlass des Gedenkens passen. Es geht schließlich auch um Verfolgung und Vertreibung, um den Weg ins Exil oder den furchtbaren Tod in einem der Konzentrationslager.
In der Virchowstraße sucht man vergeblich nach Hinweisen auf die ehemalige Synagoge. Die alte Adresse lautete Ferdinandstraße 10. In der Festschrift von 2006 zu 750 Jahren Verleihung des Stadtrechts geht Schürmann ausführlicher auf die NS-Zeit ein. “Mit dem Jahr 1933 begannen die Verfolgungen durch Hitler prompt”, wird der jüdische Arzt Dr. Hirsch zitiert. Natürlich weiß man nicht erst heute, dass eine solche Personalisierung der Massenbewegung der NSDAP und ihrer breit gestreuten Anhängerschaft nicht gerecht wird. Über den 9. November 1938 und die Tage drum herum berichten Leidtragende. Schürmann fast zusammen: “Alle Augenzeugen berichten übereinstimmend von der Brutalität der beteiligten SA-Männer.” Es ging ja in Neuruppin primär um Wohnungen oder Häuser, um Hab und Gut, um Wohl und Wehe.

Gut eingefasst. Einer der Judensterne im Tempelgarten Neuruppin.
Foto: VHS

Am 9. November 2025 wird es in Neuruppin verschiedene Veranstaltungen des Gedenkens geben, eine davon in der Klosterkirche ab 17 Uhr. Zum Zauber des Tempelgartens gehört es, dass die Symbole des Judentums für alle Tage erhalten geblieben sind oder erneuert wurden. Man muss nur genau hinsehen. Man kann innehalten. Und den Versuch machen, sich jüdisches Leben vorzustellen in Neuruppin.

In Lindow erinnert man mit einer Dauerausstellung an Friedrich Justus Perels

Er war kein Theologe, kein Seelsorger. Aber Friedrich Justus Perels war in der NS-Zeit aktiv als Justitiar für die bedrängte und verfolgte Bekennende Kirche. Mit dem Friedrich J. Perels-Haus gibt es in Lindow schon seit 1956 eine Stätte der Erinnerung. Bischof Otto Dibelius soll sich dafür eingesetzt haben. Seit diesem Sommer gehört eine Dauerausstellung zum Gedenken an den 1910 geborenen Berliner.

Von Volkmar Heuer-Strathmann

Vor dem Haus auf dem Klostergelände am Wutzsee in Lindow ist der Garten des Buches angelegt. Pflanzen, die in den Büchern Tanach, Bibel oder Koran Erwähnung finden, wachsen dort. Im Haus lädt eine Dauerausstellung seit Juli 2025 zum Besuch ein. Die wesentlichen Informationen finden sich auch in einer stilvoll gestalteten Broschüre.
Wie unterschiedlich Lebenswege sein können, würde ein Vergleich mit Friedrich Gollert aus Neuruppin zeigen. Der vertrat Bischof Otto Dibelius, der zur Bekennenden Kirche gehörte, 1935 in der eigenen Geburtsstadt auf eindrucksvolle Weise vor Gericht. Wenige Jahre später jedoch gehörte er im besetzten Warschau selbst zu den Schreibtischtätern und veröffentlichte 1942 ein dubioses Werk über die “Aufbauleistung” der Deutschen. Sein Antisemitismus ist übelster Art, sein Bild der Polinnen und Polen voller Verachtung.
In der Ausstellung heißt es indessen: “Nach dem deutschen Überfall auf Polen wird die Lage der Bekennenden Kirche immer schwieriger.” Friedrich J. Perels stand Geistlichen als Berater oder soweit noch möglich als Beistand zur Verfügung. Mit Dietrich Bonhoeffer war er befreundet. Beide verfassten 1941 einen Bericht über die beginnenden Deportationen der Jüdinnen und Juden in Berlin. Ludwig Beck, schon früh im Widerstand aktiv, erhielt ihn.

Ein Bild von Friedrich J. Perels ohne Darum, aber mit großer Ausstrahlung.
Reproduktion aus der Broschüre

Die Organe der Nazis haben ein Auge auf Untergrundaktivitäten. Dokumente zeigen Beobachtungen und Maßnahmen. Im Vordergrund der Ausstellung aber steht das Ringen um Menschlichkeit, um Brüderlichkeit, um Aufrichtigkeit. Gelebter Glaube. Familienleben wird einbezogen. Im April 1945 wird Perels gemeinsam mit anderen Akteuren in Berlin hingerichtet.
Friedrich J. Perels war seit 1940 mit Helga Kellermann verheiratet. Sohn Joachim kommt 1942 noch in Berlin zur Welt. An der Universität Hannover wird der Jurist im Fachbereich Politologie als Professor später stets an die Verwicklungen von Juristen in das NS-System erinnern, die eigene Familiengeschichte, das eigene Leid aber nie in den Vordergrund stellen. Noch im März 1945 hatte der Vater in einem Kassiber für die Liebsten notiert: “Bin wieder ganz getrost. Ihr dürft es auch sein.”

Eingang zum einstigen Zellengefängnis in der Lehrter Straße in Berlin.
Reproduktion aus der Broschüre.

In Berlin gibt es den Perelsplatz. Ein Stolperstein wurde verlegt, wo der Geehrte zuletzt aus freiem Willen lebte. Für den Vater Ernst Perels galt seit Oktober 1944 Sippenhaft. Er stirbt am 10. Mai 1945 an den Folgen der KZ-Haft. Auch an sein Leben und Leiden wird mit einem Stolperstein erinnert. Und im Friedrich Perels- Haus ebenfalls.
Die Ausstellung ist während der Öffnungszeiten der Klosterbibliothek zugänglich.

“Rebellinnen” im Hangar – ein eindrucksvolles Stück Erinnerungskultur

“Bildstarker weiblicher Untergrund in der DDR”, heißt es im Programmheft zum Film “Rebellinnen”. Zum Auftakt der neuen Kinosaison im Hangar 312 hatten sich zahlreiche Gäste eingefunden. Arne Krohn konnte auch Cornelia Schleime begrüßen – in der Sprache der Staatssicherheitsorgane eine der drei “Aufrührerinnen”, in deren Leben der staatlicherseits geförderte Film von Pamela Meyer-Arndt aus dem Jahr 2022 Einblick gibt.

Von Volkmar Heuer-Strathmann

Was Cornelia Schleime, Tina Bara und Gabriele Stötzer erlitten haben, muss krass gewesen sein. Noch mehr aber wird durch den Film vermittelt, was sie individuell oder in Untergrundgruppen dem autoritären System künstlerisch entgegensetzten. Es geht in “Rebellinnen” um Foto und Film, um Installation und Performance. Auch wer sich in der BRD intensiver mit DDR-Kultur befasst hat, wird Neuland entdecken. Und staunen. Ein Trio waren sie nicht, die drei jungen Wilden. Dass es ihnen über dreißig Jahre nach der “Einheit” nicht schlecht geht, darf man annehmen, so wie sie agieren, erzählen und sich selbst präsentieren. Geblieben war damals nur Gabriele Stötzer.

Mit Tina Bara auf den Spuren einer Fotokunst, die Tabuisiertes zeigt.

Ein Film über Foto- und Filmkunst ist per se eine Herausforderung. Dass noch so bildstarkes Material aus der Zeit der Rebellion vorhanden ist, schafft die Möglichkeit, fast unmittelbar einzutauchen. Fast, denn die Filmschaffenden von heute entscheiden, was gezeigt, was wie kommentiert wird. Paar Worte und zwei Fotos werden dem hier nicht gerecht. Allein die taktvolle Klaviermusik wäre einen eigenen Einspieler wert. Von Aktkunst wäre zu sprechen. Mit manchen Nacktbildern solle Verletzbarkeit gezeigt werden, ist zu hören. Von symbolisch aufgeladener Darbietung wie bei der Knebelung bleiben tiefe Eindrücke. Deshalb das Plakatbild, deshalb der Anblick der Schönheit. Aber kein Blut. Kein echtes Malträtieren. Zu stark ästhetisiert? Darüber ließe sich dikutieren.

Cornelia Schleime vor einem ihrer Werke aus der DDR-Zeit.
Fotos: VHS

Ein Presseheft ist öffentlich zugänglich. Dort wird der didaktische Ansatz spürbar. Warum kein zerschellendes Künstlerinnenleben gezeigt wird, erfährt man nicht. Der Film, dessen Wirkmächtigkeit und dessen Platz in den Kreisbildstellen und Mediatheken nicht in Frage gestellt werden soll, motiviert, sich mehr mit Rebellinnen zu befassen – auch mit zerbrochenen. Besonders nachhaltig prägt sich das Wort “Müllkunst” ein. Als Parole taugte “Mehr Müll dieser Art” auch für die oft so konventionell bebilderte Einheitsgegenwart. Auch was einst “Ruppiner Bilderbogen” war mit Marzipangesichtern, Posierhaltung und Waffenglanz und was die hiesige Passage ziert, könnte in einem rebellischen Kunstprojekt mal aufgerissen werden, von Künstlerinnen in der Tradition der Rebellinen Bara, Schleime und Stötzer. Schon jetzt darf man gespannt sein, was im Okober ansteht, wenn es im Hangar 312 um Umweltaktive aus DDR-Zeiten geht.

Zwischen Dämmerung und Dunkelheit: “Jahre zwischen Hund und Wolf”

Moderator und Autor im Gespräch

“Mein Leben ist nicht gerade spannend”, sagt Hardy. Echt? Aber er ist doch Romanheld in “Jahre zwischen Hund und Wolf”. Wie kommt es dann, dass es Henning Ahrens als Autor gelingt, Interesse zu wecken für den älteren Mann, diesen Comiczeichner aus Deutschland, der in der Normandie lebt und sich einlässt auf die Menschen dort, auch auf ihre Geschichte und den eigenen Ballast der NS-Zeit?

Von Volkmar Heuer-Strathmann

Hardy Espen ist erfolgreich. Aber es reicht ihm allmählich, diese auf Wirkung bedachte Zeichnerei zum Lebensschwerpunkt zu machen. Die Tage plättschern dahin, schön nah am Wasser, das Alter naht mit Macht. Mit dem Titel, so der Autor in Neuruppin, werde auf das Heraufdämmern des Lebensabends angespielt. Man selbst hatte gedacht, es gehe um etwas mehr Biss, um die lauernde Wolfsnatur und das Elend derartiger Männlichkeit. Vielleicht beides?
Als Moderator gelingt es Otto Wynen, Interesse zu wecken für den Autor, das Werk und die Hintergründe. Wynen lobt die Art, wie Menschen im Gespräch gezeigt werden: Tatsächlich hat der Erzähler einen feinsinnigen Humor. Er wolle nicht aufdringlich sein, hatte Ahrens gesagt. Es gehe auch um Politik, aber eben nicht um Didaktik. Da ist Corona, da ist die neue Rechte in Frankreich und Deutschland, da sind alte Rechnungen, die gar nicht mehr beglichen werden können. Da ist viel Weibliches in seiner Nähe. Manches reizt ihn, manches reicht ihm. Und Männer? Einen Macho, Typ neue alte Normalität, muss man ertragen. Einen 95jährigen französischen Juden lernt Hardy näher kennen. Das Auditorium auch. Die Enkelin eines gefallenen deutschen Soldaten taucht bei ihm auf. Sie nervt. Nachhaltig. Im Gesamtwerk spielt sogar eine Jugendliebe des Protagonisten keine geringe Rolle, ganz abgesehn von der derzeitigen Geliebten.

Wirkungsvolle Stimme, in wechselnden Stimmungen: Henning Ahrens.
Fotos: VHS

Dass Henning Ahrens viel Anklang findet, hat sicherlich auch mit seiner Stimme zu tun und eben mit seiner Unaufdringlichkeit. Der Niedersachse hat in dieser Hinsicht durchaus Ähnlichkeit mit dem Rheinländer neben ihm. Der eine lebt in Hessen, der andere in Brandenburg. Das mundartliche Umfeld ist folgenlos geblieben. Als Übersetzer hat Ahrens sich sicherlich nicht nur mit Wörterbüchern und dem, was Grammatik genannt wird, befasst. Sprechen ist mehr. Viel mehr. Menschen begegnen. Worte finden oder eben nicht. Sich (selbst) kennen lernen. Wahrnehmen. Schweigen. Bellen wäre echt bisschen dürftig. Oder wölfisch heulen. Was der uralte Mann sagt, hat man sich doch nicht zufällig Wort für Wort vorne ins Buch geschrieben, als wär’s was für jeden Tag – ganz besonders natürlich im Neu- oder im Ausland: “Menschen sind komplexe, widersprüchliche Geschöpfe, wie sollte es da jemals langweilig zugehen?”

„Ein Mensch zweiter Klasse“

Steinmeier und Ruhle an der Emil Wendland Gedenktafel

Vor 33 Jahren wurde Emil Wendland im Neuruppiner Rosengarten von drei Skinheads ermordet. Der Fall zeigt, wie tödlich die Ideologie sozialer Ausgrenzung wirken kann – und wie wenig Obdachlose in unserer Gesellschaft zählen.

Ein Gedenken erinnert nun an das sozialdarwinistische Hassverbrechen.

Von Macron

NEURUPPIN. Es ist eine Sommernacht im Juli 1992, als drei junge Männer durch den Rosengarten ziehen – ein Park im Zentrum von Neuruppin. Sie haben sich verabredet zum „Penner klatschen“, wie sie es nennen. Ein menschenverachtender Begriff für ihr Vorhaben: Obdachlose oder als „Assis“ abgewertete Menschen aufspüren und zusammenschlagen.

Sie finden ihr Opfer auf einer Parkbank. Emil Wendland, 50 Jahre alt, schläft dort, alkoholisiert. Einer der drei, Mirko H., tritt zu ihm, weckt ihn, schlägt zu. Dann folgen die anderen. Sie schlagen und treten den Mann. Als sie sich kurz entfernen, kehrt Mirko H. zurück – und sticht siebenmal mit einem Messer auf den bereits schwer verletzten Emil Wendland ein. In Brust und Bauch. Wenig später stirbt Wendland an seinen Verletzungen.


Das Urteil: Totschlag mit sozialdarwinistischem Motiv

Im Oktober 1993 verurteilt das Landgericht Potsdam den Haupttäter Mirko H., 20 Jahre alt, wegen Totschlags zu sieben Jahren Jugendstrafe. In der Urteilsbegründung heißt es, der Täter habe Emil Wendland für „einen Menschen zweiter Klasse“ gehalten. Ein Mittäter wird wegen schwerer Körperverletzung zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt. Auch das Gericht erkennt den ideologischen Hintergrund der Tat an: Es sei darum gegangen, „in der Nacht Assis aufzuklatschen“ – das Zusammenschlagen von Personen, die als „missliebig“ oder „verachtenswert“ galten.

Die Richter benennen, was lange Zeit verschwiegen wurde: Die Täter handelten aus einem sozialdarwinistischen Weltbild heraus – einer Ideologie, die den Wert eines Menschen nach sozialer Stellung, Leistungsfähigkeit und Anpassung bemisst.

**Ein Mord mit politischem Motiv – aber lange nicht als solcher anerkannt

Was folgte, war nicht nur ein Mord, sondern auch ein Fall von institutionellem Wegsehen. Obwohl die Täter im Prozess sagten, sie hätten aus Hass auf Obdachlose gehandelt, stuften Ermittler die Tat nicht als politisch motiviert ein. Das Landgericht Neuruppin verurteilte den Haupttäter 1993 wegen Totschlags zu sieben Jahren Jugendstrafe, einen Mittäter zu drei Jahren wegen schwerer Körperverletzung. Vom gesellschaftlichen Kontext – rechte Gewalt, Sozialdarwinismus – war kaum die Rede.

Erst Jahre später, nach Recherchen von Initiativen wie der Opferperspektive Brandenburg, wurde die Tat offiziell als rechtsextrem motivierter Mord anerkannt.

**Wendland war mehr als ein Opfer

Von Emil Wendland ist nicht viel überliefert. Er war alkoholkrank, wohnungslos, lebte in Notunterkünften oder auf der Straße. Dass kaum jemand mehr über ihn weiß, liegt nicht nur an seiner Lage – sondern auch an einem gesellschaftlichen Desinteresse. Er war ein Mensch am Rand, ein Mensch, den viele nicht sehen wollten. Genau das machte ihn zum leichten Ziel.

Die Täter sprachen nicht von „Linken“, „Ausländern“ oder „Anderen“ – sie sprachen von „Abschaum“. Ihre Tat war Ausdruck eines sozialdarwinistischen Denkens, wie es im rechtsextremen Milieu verbreitet ist: Nur wer „leistet“, gehört dazu. Wer „schwach“ ist, zählt nicht.

Ein Gedenken – zu spät?

Am Dienstagmittag, 33 Jahre nach der Tat, gedenken Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gemeinsam mit Neuruppins Bürgermeister Nico Ruhle , Vertreter:innen von Neuruppin bleibt bunt und dem Mittendrin in einer Schweigeminute an Emil Wendland. Im Rosengarten legen sie am Mahnmal Blumen nieder.

Doch noch immer stellen sich viele in der Stadt auch eine andere Frage: Warum hat es so lange gedauert, bis Emil Wendland öffentlich gewürdigt wurde? Warum wurde sein Tod nicht sofort als das erkannt, was er war: Ein rechtsradikaler sozial motivierter Hassmord – Ausdruck eines enthemmten Klassenhasses von rechts.

Bundespräsident Steinmeier und Nico Ruhle im Gespräch mit Vertreter:innen von Neuruppin bleibt bunt und des „Mittendrin“ Foto: Wolfgang Frese

Wer zählt – und wer nicht?

Emil Wendland war ein Mensch mit Brüchen. Alkoholkrank, wohnungslos, sozial isoliert. In den Augen der Täter war das Grund genug, ihn anzugreifen. Und auch nach seinem Tod blieb die öffentliche Reaktion verhalten. Kein Aufschrei, keine große Mahnwache. Die Würde des Opfers wurde überlagert von einem Schweigen, das viel über die Stellung armer und obdachloser Menschen in Deutschland sagt.

Dabei war Wendland nicht das erste Opfer solcher Gewalt. Schon in den 1990er Jahren registrierten Opferberatungen zahlreiche Übergriffe auf Wohnungslose, auch in Brandenburg. Die Täter kamen häufig aus der rechten Szene – ihr Weltbild geprägt von Abwertung, Selbstüberhöhung und Gewalt.

Erinnern an Opfer rechter Gewalt. Foto: Macron