Das Kulturhaus in Treptow war gut gewählt als Tourneestation in Berlin. Der Raum sehr gut gefüllt, man stand eng, aber nicht zu eng beieinander, Stühle oder Bänke hätten bloß gestört. “Karl die Große” so nah und so nahbar zu erleben, das gefiel. Dafür fährt man doch gerne in die Bundeshauptstadt und kehrt voller Eindrücke auch gerne wieder zurück.
Von Volkmar Heuer-Strathmann
Im Vorprogramm wurde flott und verwegen aufgespielt an Geige und Gitarre. Rosa Hoelger und Judith Retzlik waren als vielversprechendes Duo zu erleben. Am Ende kam Wencke Wollny noch hinzu, um gemeinsam Vogelstimmen im Übermut aufflattern zu lassen. Das Publikum bekam die erste Lektion Lyrik, Leistungskurs. Die zweite wurde noch anspruchsvoller, aber auch vielseitiger. Proseminar, fächerübergreifend. Durch ein Wort wie “Elend” wähnte man sich im Harz der Geografen, durch “Sorge” zwischen Harz und Faust in der Tragödie zweitem Teil. Wie zur Erklärung des in Berlin womöglich befremdenden hohen Niveaus der Wörterschlacht erwähnte die Musikerin später, sie komme aus der Fontanestadt Neuruppin. Nicht an diesem Wochenende, da kam das Trio aus Magdeburg nach einem erfolgreichen Tourneeauftakt. Aber ursprünglich. Das Licht der Welt, diese Geschichte.

“Die können einfach alles”, hatte Rosa Hoelger geschwärmt. Echt? Wie diese Männer, von denen Wencke Wollny später singen wird? Denen sie Taten und Untaten anlasten wird in “Dreh dich nicht um”? Machtspiele, Erfolgsprofile, Schadensbilanzen wie in Sodom und Gomorrha? “Du erstarrtest zu Salz, du zerfielest zu Staub”, das Alte Testament finster aufgeblättert im fotofeindlichen Rampenlicht, alles kann alles Mögliche bedeuten, alles Schreckliche auch und alles Berauschende wie all die Spielarten von Gitarrenklang, Posaunenspiel, Schlagwerk und Gesang, wie “Karl die Große”, wie Wencke Wollny, Antonia Hausmann und Katha Lattke, wie die in Berlin gefeierten Tourneestars. Alles scheint möglich. Eines Tages auch mal als Quintett?
Eigentlich ist man ja auf Verkaufstour. Doch die üblichen kleinen Gags sind nicht zu hören. Das Konzert selbst ist die Reklame, “Bau nicht auf mich” steht am Anfang. Im Lichtwirbel geht’s über “70 Quadradtmeter” Leben und durch den Garten mit “Zerquetschten Tomaten”. Wollny erzählt vorab von einem Kind, das Unbehagen, Qual und Angst mit diesem Bild ausgedrückt habe. Die Songs werden beklatscht und bejubelt, nur mit den Refrains zum Mitsingen klappt es noch nicht so recht. Die neue Zurückhaltung im herrlich großkotzigen Berlin nach den jüngsten Umfragen? Gut gespielt!

Fotos: VHS
Ein “Zielloses Blatt” fällt. Eine “Rakete” des Größenwahns und der Profitkalkulation geht ab, eine “Schwere Kindheit” wird zersungen. Doch da ist auch immer wieder der Fanfarenklang der Posaune und der leise Herzschlag des Schlagwerks. Magdeburg, Berlin, Leipzig – die ersten drei Stationen. Später Nürnberg. Weiter, immer weiter. Aus Neuruppin sieht man auch Gesichter. Die Mehrheit der Gäste dürfte der Generation der Künstlerinnen zuzurechnen sein. Wencke Wollny kam 1989 auf die Welt. Bald gab’s Einheitsbrei – nicht nur für das Kind. Jetzt zieht sie durch die Welt. Alles ist anders als vorher. Und wie war’s? Und was kommt? Was bewegt die Welt? “Wenn du mich lässt, geb’ ich dir Halt”, war am Anfang von “Karl” zu hören. Sehr privat, sehr politisch. Mit sehr viel Applaus bedacht. Gleich zu Beginn. Die Lektion in Dialektik nahm ihren Lauf – vielstimmig, kraft- und kunstvoll.
Liebeslyrik, Lebenspoesie und Geschichtsphiloophie sind auf der CD “Aufgehoben” aufge/ Na? Keine Lust auf Lückentexte im Oberseminar? Live ist natürlich noch lebendiger, riskanter, rücksichtsloser und doch immer wieder auch charmant, galant und vor allem eloquent. Hatte man selbst nicht eben noch draußen am See bei Erwin Strittmatter das Geständnis gelesen: “Wir gewöhnen unsere Kinder zeitig an unsere Lügen”? Davon gab’s reichlich bei den Strittis, von Kindern auch. Und nun hier eine Adaption aus den Werken von Eva Strittmatter? Nie naiv, immer schön misstrauisch und damit der Lyrikerin aus Neuruppin eigentlich sehr nah im Farbwechsel von der blassen “Birke” zum feurigen “Flamingo”. Bei Wencke Wollny wäre das Erbe von Eva Braun, verheiratete Strittmatter, in guten Händen, wenn 2030 in Neuruppin in der Kulturkirche am Schinkelplatz zum Hundertsten eingeladen wird.


